R. Wyss: Reformprogramm und Politik

Titel
Reformprogramm und Politik. Möglichkeiten und Grenzen der Umsetzung von Reformideen der Oekonomischen Gesellschaft Bern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts


Autor(en)
Wyss, Regula
Reihe
Frühneuzeit-Forschungen
Erschienen
Epfendorf 2015: bibliotheca academica Verlag
Anzahl Seiten
286 S.
von
Rolf Graber

Die 1759 gegründete Oekonomische Gesellschaft Bern gehört zu den ältesten ökonomisch-patriotischen Sozietäten auf dem europäischen Festland und wird zum Vorbild für weitere Sozietätsgründungen. Zudem wecken ihre Aktivitäten schon früh das Interesse der Forschung. Ältere Arbeiten eröffnen einen institutionengeschichtlichen, dogmengeschichtlichen, lexikalischen und biografischen Zugang. Das unter der Leitung von Prof. Dr. André Holenstein und Prof. Dr. Christian Pfister an der Universität Bern lancierte Forschungsprojekt Nützliche Wissenschaft, Naturaneignung und Politik – Die Oekonomische Gesellschaft Bern im europäischen Kontext (1750 –1850) eröffnet im Gegensatz zur älteren Sozietätenforschung einen weiteren Horizont und stellt die Aktivitäten der Gesellschaft in einen wissenschaftsgeschichtlichen und gesamteuropäischen Kontext. Die im Rahmen dieses Projekts entstandene Dissertation von Regula Wyss befasst sich mit der zentralen Frage nach der Beziehung zwischen Sozietät und Staat.

Diese Fragestellung ist nicht neu, personelle Verflechtungen, die Ambivalenz und Grenzen der Reformpolitik, das Spannungsfeld von Reformdiskurs und sozialer Realität sowie die «Janusköpfigkeit der Reformer» (Rudolf Braun) standen schon im Fokus älterer Arbeiten. Neu ist jedoch der mikroanalytisch-quantifizierende Zugang zur Problematik. Gestützt auf serielles Quellenmaterial wie eine umfangreiche Datenbank, die Regimentsbüchlein der Berner Obrigkeit aus dem 18. Jahrhundert und ein Verzeichnis der Anträge an den Grossen Rat gelingt es der Autorin, in beeindruckender Recherchier-Arbeit, die reformerischen Aktivitäten der einzelnen Mitglieder der Sozietät in Staatsapparat und Verwaltung nachzuzeichnen. Dabei stehen Kommunikationsprozesse, Interaktionen und Implementierung der Reformen im Zentrum des Interesses.

Die Arbeit gliedert sich in sechs Kapitel. In der Einleitung werden die für die Fragestellung relevanten Forschungsfelder kenntnisreich vorgestellt. Besondere Bedeutung kommt dem bernischen Staatsverständnis zu. Eine Annäherung erfolgt über die Begriffe Republikanismus, Patriotismus und Paternalismus, die in neueren Forschungsarbeiten zur Geschichte der Frühen Neuzeit in der Schweiz erhöhte Aufmerksamkeit gefunden haben. Im zweiten Kapitel werden Staatsorganisation und Staatsverwaltung genauer beschrieben und wird gezeigt, dass wesentliche Strukturelemente des frühneuzeitlichen europäischen Staates fehlten. Zudem musste das «paternalistische Regiment» immer auf lokale Rechtstraditionen Rücksicht nehmen und eine Strategie der Kooperation und des Aushandelns verfolgen. In die Analyse dieser Herrschaftsstrategie fliessen die Erkenntnisse der jüngeren Policeyforschung ein. Im dritten Kapitel wird die Oekonomische Gesellschaft Bern im Rahmen der europäischen Sozietätenbewegung verortet. Zudem werden die wichtigsten Tätigkeitsfelder wie Förderung von Landwirtschaft, Handel und Handwerk sowie die Generierung und Vermittlung von Wissen näher vorgestellt und die verschiedenen Mitgliederkategorien benannt. Mit der zentralen Thematik der Arbeit, dem Verhältnis von Sozietät und Staat, beschäftigt sich das vierte Kapitel. Es ermöglicht einen tiefen Einblick in das Beziehungsnetz der beiden Institutionen. Neben der Präsenz der Ökonomischen Patrioten in staatlichen Ämtern und Kommissionen werden etwa auch die Anträge im Grossen Rat und deren Reformpotenzial statistisch erfasst. Bemerkenswert ist die Erkenntnis, dass sich die im Regiment vertretenen Mitglieder der Sozietät – mit Ausnahme der Gebrüder Tscharner – nur geringfügig anders als die übrigen Ratsmitglieder verhielten und in erster Linie als Patrizier und Magistratspersonen agierten. Generell hielt sich der Reformeifer in Grenzen, nur 16% aller eingereichten Anträge weisen ein hohes Reformpotenzial auf. Dort, wo die bestehende Privilegienordnung, das traditionelle Herrschaftsgefüge und die Appropriationsstruktur tangiert wurden, machte sich eine zögernd-ambivalente Haltung bemerkbar. Diese aus der quantitativen Analyse gewonnenen Erkenntnisse werden durch die qualitative Untersuchung im ausführlichen fünften Kapitel bestätigt. Es befasst sich mit den Strategien und Praktiken der Reformpolitik. Besonders interessant sind die Ausführungen zu politisch brisanten Themen wie Allmendteilung, Bevölkerungspolitik und Getreidehandel. An ihnen lässt sich die Ambivalenz der Reformpolitik besonders deutlich aufzeigen. Die Versuche zur Allmendteilung zeigen, dass der Handlungsspielraum der städtischen Obrigkeit begrenzt ist und die lokalen Akteure in den Prozess einbezogen werden müssen, zumal es nicht nur um landwirtschaftliche Reformvorhaben, sondern um einen Eingriff in die lokalen Rechtsverhältnisse und um Interessenkonflikte zwischen den verschiedenen dörflichen Sozialgruppen geht. Zur Einordnung der Agrarreformen wäre die von Clemens Zimmermann vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Struktur- und Innovationsreformen hilfreich gewesen. Konfliktträchtig ist auch die Beschäftigung mit der Bevölkerungspolitik. Am Fall des Pfarrers und Statistikers Jean-Louis Muret gelingt es der Autorin, die obrigkeitlich gesetzten Tabuzonen und Toleranzgrenzen subtil auszuleuchten. Hier drängt sich ein Hinweis auf das Schicksal von Pfarrer Waser in Zürich auf, der wegen seiner statistischen Erhebungen auf dem Schafott endete. Brisant ist auch der Diskurs um Getreidehandelspolitik und Versorgungssicherheit, indem paternalistische Konzepte mit ihrem protektionistischen Steuerungsinstrumentarium auf die Forderung nach Freihandel stossen. Die hier ausgewählten Konfliktfelder verweisen nochmals auf die immanenten Widersprüche und auf die Frage nach der Bewertung der Reformpolitik, die im Schlusskapitel vorgenommen wird. Zu Recht hebt die Autorin die herrschaftsstabilisierende Rolle der Reformpolitik hervor, sei es in Form der Versorgungspolitik als Stütze der staatlichen Macht oder einer Politik des Ausgleichs als Herrschaftsstrategie. Die Oekonomische Gesellschaft Bern erweist sich deshalb eher als «think tank» der Obrigkeit (S. 250) denn als Auslöser von grundlegenden Veränderungen und ihre Aktivitäten sind anschlussfähig an «reformabsolutistische» Regierungstechniken (S. 251). Aufschlussreich wäre es noch gewesen, diese Befunde mit denjenigen zur Naturforschenden Gesellschaft Zürichs zu konfrontieren. Dadurch hätte gezeigt werden können, dass in einem anderen Umfeld selbst die systemimmanente Reformpolitik eine Eigendynamik entfaltete, die zusammen mit dem zunehmenden Problemdruck für das politische System gefährlich werden konnte und zu einem «fading out» der Reformaktivitäten führte.

Zitierweise:
Rolf Graber: Rezension zu: Wyss, Regula: Reformprogramm und Politik. Möglichkeiten und Grenzen der Umsetzung von Reformideen der Oekonomischen Gesellschaft Bern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Epfendorf/Neckar: bibliotheca academica Verlag 2015. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 79 Nr. 1, 2017, S. 54-56.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 79 Nr. 1, 2017, S. 54-56.

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